Bücher
Krystyna
Eines Abends rief ich sie an und sagte, sie solle mir alles erzählen, den Rest, das Geheimnis.
Warschau 1957. Vor der Wohnung der im ganzen Ostblock bekannten Satirikerin Krystyna Zywulska taucht mitten in der Nacht ein junger, charismatischer Dramatiker auf. Sein Name verrät ihn sofort, er ist der Sohn des größten deutschen Filmregisseurs der Nazizeit. Die Auschwitzüberlebende und inzwischen einflussreiche Krystyna, Gattin eines hohen Funktionärs, soll ihm helfen: Er will ihr Wissen, um ein Stück zu schreiben über den Aufstand der Juden im Ghetto, doch er will auch noch viel mehr.
Er will die Täter verfolgen, deren Schuld er größer glaubt als die des Vaters. Und er will Liebe: ihre Liebe. Entgegen aller Vernunft lässt Krystyna Mann und Kinder zurück und folgt ihm nach Deutschland, Paris, Jugoslawien, Mailand und Rom. Sie muss erleben, wie sie hinter dem wahnwitzigen, kometenhaften Tempo dieses Fanatikers zurückbleibt.
Krystyna hat ihre Berichte über das Warschauer Ghetto und Auschwitz geschrieben („Wo vorher Birken“ waren und „Leeres Wasser“), sie wurden weltweit übersetzt.
Die Geschichte ihrer atemberaubenden Amour fou blieb unerzählt. Erst kurz vor ihrem Tod vertraute sie sie in vielen Sitzungen der jungen Schriftstellerin an, das Tonband lief mit.
Ein Zeitdokument über die Verstrickungen der deutschen Nachkriegsgeschichte, über das Schuldigwerden der Opfer in den kommunistischen Apparaten, über die Vertreibung der Juden aus Polen im Jahre 1968, vor allem aber über den leidenschaftlichen und unmöglichen Versuch einer gelebten Wiedergutmachung.
Stimmen
Marta Kijowska, Süddeutsche Zeitung
… eine Geschichte von großer, ja bewegender Kraft. Krystyna Zywulskas Leben hätte keine eindringlichere Protokollantin finden können.
Rainer Moritz, Rheinischer Merkur
Wer den Mut zu einer solchen Arbeit aufbringt, muss sie mit der Präzision einer preußischen Gouvernante, der Disziplin eines mittelalterlichen Mönchs tun und dazu noch die Lippen versiegelt haben, um einen Kommentar nicht einmal zu flüstern….
Liane Dirks ist ein gute Erzählerin. … Man könnte einen Film daraus machen, im Stil der französischen Nouvelle vague. Ein Film voller Schweigen, einen Film der Andacht und des angehaltenen Atems, doch ohne Tränen.
Andrzej Sczcypiorski, Der Spiegel
Liane Dirks idealisiert nicht und ergreift nicht Partei. Bei aller Anteilnahme und einfühlender Nähe hält ihr Buch Distanz und erzählt faszinierend von Verstrickungen in Schuld und Sühne.
Werner Schulze-Reimpell, NDR und Nürnberger Nachrichten
Mit großer Sensibilität und sprachlicher Kraft gelingt Liane Dirks ein poetisches Einfühlen, das auf Atmosphärisches der erzählten Situation aus ist, auf Stimmungen, die sich hinter den Ereignissen verbergen. Der Roman lässt sich als Erzählung vom Leben schlechthin verstehen, wie ihm Leid, Tod und Vergeblichkeit und die Sehnsucht nach Liebe und Glück zutiefst eingeschrieben sind.
Christoph Schmitz, SDR
Man liest den Roman, der keine Biographie und doch so authentisch ist, wie es ein Roman kaum sein kann, mit Beklemmung. Überraschung, Ungläubigkeit. Dass so eine gebrochene Existenz, wie die der Zywulska, überhaupt möglich war.
Emmanuel van Stein, Kölner Stadtanzeiger
Liane Dirks’ kleines Meisterwerk ist vor allem ein Buch über die Ignoranz der Geschichte. Den Geist der fünfziger und sechziger Jahre in Deutschland hat sie so präzise eingefangen wie die historischen Entwicklungen vom Warschauer Frühling zu General Moczars antijüdischer Hetzjagd. Wie sich in diesem Buch das Fatum der europäischen Geschichte spiegelt, das ist schlicht ergreifend.
Stefan Tolksdorf, Badische Zeitung
Wenn man einem deutschen Autor sagen würde, was ist die schwierigste Szene, die man überhaupt schreiben kann, dann ist es sicher die, die Liebesszene im KZ. … Das Schöne an diesem Buch ist, wenn der Leser an diesem Punkt ist, verliert diese Szene jeden Schmerz, jede Peinlichkeit. Sie ist erzählbar. Man kann sagen, der ganze Roman hat darauf hingearbeitet, dass diese Geschichte, eine wirklich geschehene Geschichte, unpeinlich erzählt werden kann. Und das ist Liane Dirks gelungen und das ist fast das Größte, was man überhaupt sagen kann.
Hubert Winkels , Kulturzeit 3Sat
Persönliches
Krystyna war so eine für mich.
Allein, wie lange es gedauert hat, bis ich wusste, wann sie geboren war und wie sie wirklich hieß. Sie hieß Sophie, Sophie Landau. Krystyna Zywulska war ihr Über-Lebensname. Es war merkwürdig, als wir zusammen im Kino die Verfilmung von William Styrons Roman „Sophies Entscheidung“ sahen: Die Hauptfigur hieß wie sie und war ebenfalls aus Lodz. Krystyna war begeistert, so hart es für sie war, die Szenen, die in Auschwitz spielten, anzusehen, Meryl Streep war auch das gelungen. Allein, wie sie geht, sagte sie, genau so sind wir gegangen.
In einem Interview erinnerte sich Meryl Streep, wie sie sich diesen Gang ausgedacht und antrainiert hat. Im Lager war ja oftmals alles matschig, sie ging folglich nicht schleppend, sie stakste vielmehr, o-beinig, wankend, genau so, dass man keinen Schritt zu viel machen musste: Kraft sparen, überleben.
Krystynas Bericht Wo vorher Birken waren war das allererste Buch über Auschwitz, sie hatte es unmittelbar nach der Befreiung geschrieben. Das Exemplar, das in meinem Roman „Krystyna“ nachts von der Sessellehne fällt mit der Stirnseite nach unten, ist heute, mehr als 75 Jahre danach, in meinem Besitz. Ich hüte es wie einen Schatz. Während ihr Bericht weltweit übersetzt wurde, wurde er in Deutschland erst sehr spät veröffentlicht. Das Buch erschien dann zusammen mit ihren Erinnerungen an das Ghetto „Leeres Wasser“ unter dem Titel „Tanz, Mädchen“ bei dtv, auch dieses Buch wurde trotz meiner Bemühungen leider nicht mehr aufgelegt. In Polen aber und auch in den USA gibt es die Bücher jetzt wieder, ebenso in Frankreich und Japan.
Ich habe sehr viel Literatur über den Holocaust gelesen, Krystynas Bücher haben mich am meisten erschüttert, sie hat nichts beschönigt, gar nichts. Am meisten hat sich mir die Szene in Auschwitz eingebrannt, als das Lager noch ganz voll war und sie nachts neben einem Leichenberg vor der Krankenstation etwas Kleines sich bewegen sah. Es war ein Kind, es nuckelte am Daumen einer Leiche.
Krystyna starb im Jahr 1992. Ich brauchte danach noch vier weitere Jahre, um das Buch schreiben zu können. Insgesamt habe ich über zehn Jahre hinweg daran gearbeitet.
Heute, da die Shoah zunehmend fiktionalisiert wird, was, nachdem die letzten Zeugen nun sterben, zu erwarten war, hätte man diesen Stoff vielleicht auch anders schreiben können. Ich habe jedenfalls nicht auch von mir in diesem Buch erzählt, weil ich mich hineindrängen oder gar wichtig tun wollte. Im Gegenteil: So zu tun, als könne man diese Lebensgeschichte als allwissender Erzähler wiedergeben, dieser Gestus schien mir falsch.
Wieso Krystyna so markerschütternd lachen konnte? Ich weiß es bis heute nicht.
Aber eines weiß ich: So lacht die Hoffnung. Es gibt keinen größeren Trost.